Buch II, Erster Teil, Kapitel 4

Zeit für ein Duell

Pierre aß und trank wie immer viel und mit großem Appetit. Doch alle, die ihn kannten, sahen eine große Veränderung in ihm. Er sagte während des ganzen Essens kein Wort, war ganz zerstreut und sah niedergeschlagen und finster aus. Er grübelte über eine Anspielung der bei ihm in Moskau wohnenden Prinzessin auf die nahen Beziehungen Dolochows zu seiner Frau und einen anonymen Brief, in dem ihm versichert wurde diese Beziehungen seien für niemandem ein Geheimnis außer für ihn selbst. Obwohl Pierre diese Anspielungen entschieden ablehnte, war es ihm doch ganz fürcherlich diesen hübschen frohen Dolochow jetzt anzusehen. Er erkannte, dass alles, was in dem Brief gesagt wurde zum mindesten wahr sein konnte. Er dachte daran, wie Dolochow, der nach dem Feldzug wieder in alle seine Rechte eingesetzt worden war, nach Petersburg zurückgekehrt und sich auf seine frühere Freundschaft zu Pierre berufend gleich zu ihm gekommen war. Pierre hatte ihn aufgenommen und ihm Geld geliehen, während Dolochow ihm zynisch die Reize seiner Frau angepriesen und sich bis zu ihrer Abreise nach Moskau nicht einen Augenblick von ihnen getrennt hatte. Pierre war sich sicher, dass es für Dolochow einen besonderen Reiz hätte seinen Namen zu schänden, gerade deshalb, weil er sich um ihn bemüht hatte. Er dachte an die Grausamkeiten die Dolochow manchmal beging und war überzeugt diesem war es angenehm, dass alle Leute sich vor ihm fürchteten. Tatsächlich fürchtete Pierre ihn ebenfalls und spürte bei diesen Gedanken etwas Entsetzliches, Scheußliches in seiner Seele aufsteigen.

Dolochow, Denissow und Rostow saßen Pierre gegenüber, unterhielten sich lustig miteinander, schielten ab und zu spöttisch zu Pierre hinüber und machten scherzhafte Anspielungen an dessen hübsche Frau. Rostow stand Pierre wenig wohlwollend gegenüber, weil dieser seiner Ansicht nach nichts weiter als einen reicher, weibischer Zivilist war, weil er Rostow in seiner Zerstreutheit nicht sogleich erkannt hatte und obendrein nicht zu seinem Glase gegriffen hatte, als zum Wohl des Kaisers getrunken wurde. Als Pierre sich angetrieben durch die spöttischen Bemerkungen schließlich über Dolochow echauffierte und ihn lauthals forderte, willigte Rostow deshalb ein Dolochows Sekundant zu sein. Während Pierre im Anschluss schon nach Hause gefahren war, besprach Rostow mit Neswizkij, dem Sekundanten Besuchows, die Bedinungen zum Duell und fragte Dolochow zum Abschied noch, wieso er so ruhig blieb. Dieser erwiderte darauf, dass das Geheimnis eines Duells darin lag, gar nicht daran zu denken, dass man getötet werden könnte. “Natürlich muß man sich vor einem Bären fürchten, steht man ihm aber Aug in Auge gegenüber, ist die Furcht auch schon vorbei. Dann hat man nur noch die eine Angst, daß er entweichen könnte.”

Als sich die Gruppe am nächsten Morgen pünktlich im Sokolnikiwäldchen traf, machte Pierre den Eindruck mit Gedanken beschäftigt zu sein, die mit dem vorliegendem Fall nicht das mindeste zu tun zu haben. Zwei Gedanken beschäftigten ihn ausschließlich: die Schuld seiner Frau, über die ihm nach dieser schlaflosen Nacht nicht der geringste Zweifel mehr verblieben war und die Schuldlosigkeit Dolochows, der doch keinerlei Grund gehabt hatte, die Ehre eines ihm fremden Menschen zu schonen. Vielleicht hätte ich an seiner Stelle auch nicht anders gehandelt, dachte Pierre. Warum also dieses Duell, dieser Mord? Man sollte von hier fortgehen, weglaufen, sich irgendwo verstecken, schoss es ihm durch den Sinn. Doch im selben Augenblick fragte er mit ruhiger, zerstreuter Miene “Geht es bald los? Sind Sie bereit?”.

Als alles fertig war, als die Säbel im Schnee steckten und die Grenze, bis zu der vorgegangen werden sollte markierten und als die Pistolen geladen waren, trat Neswizkij noch einmal auf Pierre zu und versuchte ihm das ganze auszureden. Er befände sich im Unrecht, war erregt und es läge auf keiner Seite eine Beleidigung vor. Es wäre edler sich einen Fehler einzugestehen, als eine Sache so weit zu treiben, dass sie nicht wiedergutzumachen ist. Er bat darum noch einmal verhandeln zu dürfen und eine Entschuldigung anzubieten. Pierre aber verneinte dieses Angebot und erkundigte sich nur noch einmal, wohin er gehen und wohin er schießen müsse. Er nahm die Pistole in die Hand und fragte, wo man sie abdrücken müsse, da er bis auf den heutigen Tag noch nie eine Pistole in der Hand gehabt hatte, was er sich aber nicht merken lassen wollte. Dolochow lehnte ebenfalls einen von Denissow vorgetragenen Versöhnungsversuch ab und trat auf seinen Platz.

Man hatte für das Duell eine kleine Lichtung im Fichtenwald ausgewählt. Die Gegner standen an den Rändern der Lichtung. Von dort, wo sie standen, bis an die Stelle, wo Neswizkijs und Denissows Säbel in den Schnee gesteckt waren, hatten die Sekundanten durch das Abmessen der Schritte in dem tiefen, weichen Schnee einen kleinen Weg gebahnt. Es taute immer noch und war neblig, so daß man auf vierzig Schritte nichts sehen konnte. Nach drei Minuten war alles fertig, aber man zögerte immer noch anzufangen. Alle schwiegen.