Buch II, Dritter Teil, Kapitel 1

Zwei alte Seelen

Im Jahre 1808 war Kaiser Alexander nach Erfurt gefahren um mit Kaiser Napoleon zusammenzutreffen und in der höchsten Petersburger Gesellschaft sprach man viel davon, wie großartig diese Zusammenkunft gewesen war. Als Napoleon im Jahre darauf Österreich den Krieg erklärte, war das Bündnis zwischen den beiden Weltherrschern, wie man Napoleon und Alexander nannte, inzwischen so groß geworden, dass ein russisches Armeekorps bis an die Grenze rückte, um den früheren Feind Bonaparte gegen den ehemaligen Verbündeten, den Kaiser von Österreich, zu Hilfe zu kommen. In den höchsten Kreisen sprach man sogar von einer Hochzeit Napoleons und einer Schwester Kaiser Alexanders. Neben all diesen Wendungen in der äußeren Politik waren es aber besonders innere Umwälzungen in allen Teilen der Staatsverwaltung, die zu dieser Zeit die Aufmerksamkeit der russischen Gesellschaft auf sich zogen.

Indessen ging das wirkliche Leben der Menschen wie immer seinen gewöhnlichen Gang. Fürst Andrej hatte zwei Jahre lang auf dem Lande gelebt, ohne aus seinen vier Pfählen herauszukommen. Die eine Hälfte seiner Zeit verbrachte er in Lysyja-Gory bei Vater und Sohn, die andere Hälfte in Bogutscharowo, seinem Landsitz. Alle jene Verbesserungen, die Pierre im Sinne gehabt aber nicht zur Ausführung gebracht hatte, hatte nun Fürst Andrej ohne sonderliche Mühe eingeführt. Er hatte auf einem seiner Güter die Leibeigenen zu freien Bauern gemacht, auf einem anderen die Fronarbeit in Pachtzins umgewandelt. In Bogutscharawo hatte er eine ausgebildete Hebamme angestellt und der Geistliche unterrichtete die Kinder der Bauern und des Hofgesindes. Obgleich er sich gegenüber Pierre gegenüber allen äußeren Ergeignissen gleichgültig gezeigt hatte, verfolgte Andrej doch alles mit großem Eifer, ließ sich viele Bücher kommen und bemerkte oft, dass seine Gäste aus Petersburg über alles, was in der inneren und äußeren Politik vorgegangen war, weit weniger orientiert waren als er. Zusätzlich befasste er sich mit einer kritischen Untersuchung der beiden letzten unglücklichen Feldzüge und einem Entwurf zur Abänderung der militärischen Reglements und Verordnungen.

Im Frühjahr 1809 besuchte Fürst Andrej als Vormund seines Sohnes dessen Güter in Rjasan. Auf dem weg dahin musste er mit derselben Fähre übersetzen, auf der er im vorigen Jahr mit Pierre jenes Gespräch geführt hatte. Danach ging es durch ein schmutziges Dorf und an den grün werdenden Feldern vorbei. Auf der Reise macht der Diener Pjotr ihn auf den Frühlingsbeginn aufmerksam und wirklich, es war schon alles grün, wie schnell das gegangen ist! Am Rande des Weges stand eine Eiche, sie mochte zehnmal so alt sein wie alle die Birken, die den Wald bildeten. Es war ein riesiger Baum, der mit seinen riesigen, plumpen, unsymmetrisch verzweigten, knorrigen Armen und Fingern wie ein altes, grimmiges Ungeheuer mitten unter den jungen Birken stand und geringschätzig auf sie herab sah. Frühling, Liebe und Glück! schien die Eiche zu sagen. Wird euch das nicht langweilig, an diesen immer wiederkehrenden, sinnlosen Betrug zu glauben? Es gibt keinen Frühling, keine Sonne und kein Glück. Ich stehe hier mit meinen gebrochenen, geknickten Zweigen, so wie ich gewachsen bin, und glaube nicht an euren Betrug.

Ja, sie hat recht, diese Eiche, dachte der Fürst. Mögen sich andere, jüngere, immer wieder diesem Betrug hingeben, wir aber kennen das Leben, unsere Zeit ist vorbei. Während dieser Reise ließ er sein ganzes Leben noch einmal an seiner Seele vorüberziehen und kam zu demselben beruhigenden, aber hoffnungslosen Schluß wie früher, dass er nichts neues mehr anfangen dürfte, sondern nur sein Leben zu Ende leben müsse, ohne etwas Böses zu tun, ohne Aufregung und ohne Wünsche.